Ist da wer? Religiöse Orientierung und kirchliche Integration - Konferenz der Kinder- und Jugendarbeit 2019
Generation V, ein ausgeprägter Pragmatismus, Ungewissheiten, sich nicht festlegen wollen - all das sind Schlagworte, die immer wieder kursieren, wenn es um die Lebenswelten der jungen Erwachsenen geht. Auch auf der Konferenz der Kinder – und Jugendarbeit 2019 im Kloster Höchst widmeten sich Ehrenamtliche und Hauptberufliche der jungen Generation und der Studie namens „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“. Ergebnisse aus der sogenannten AID: A-Studie wurden von Martina Gille, Leiterin des Kompetenzteams Jugend beim Deutschen Jugendinstitut e.V., vorgetragen. Schwerpunkt lag auf religiöser Orientierung und kirchlicher Integration von Jugendlichen.
„Junge Menschen wollen alles zugleich“
Um religiöse Orientierung besser einordnen zu können, lohnte sich für Gille zunächst der Blick auf die Werteorientierung Jugendlicher im Allgemeinen. „Was man auf der Werteebene erkennen kann, ist eine persönliche Absicherung“, konstatierte Gille. Soziale Netzwerke, Familie und Freunde werden immer wichtiger. Beruf, Arbeit, eine eigene zukünftige Familie verlieren darüber hinaus in jüngster Zeit etwas an Bedeutung. Trotzdem bleiben diese Felder nach wie vor auf einem hohen Niveau. Insgesamt findet man eine große Übereinstimmung in den Lebenszielen junger Frauen und Männer. In bestimmten Bereichen allerdings, zum Beispiel in Hinblick auf prosoziale Orientierung und Religiosität, sind geschlechterspezifische Differenzen über die Zeit konstant geblieben. Im Hinblick auf den Stellenwert der Work-Life-Balance erkennt man in der Studie angleichende Präferenzen.
Generell ist eine stärkere Aufladung einer Wertehaltung zu beobachten. Das heißt, trotz ungewisser Zukunftsperspektiven, orientieren sich junge Erwachsene an Werten wie Leistung. Persönliche Selbstentfaltung und Lebensgenuss bleiben weiterhin wichtige Lebensziele, während prosoziale Orientierung und Pflichtbewusstsein eingeholt haben. Auch findet zurzeit eine zunehmende Politisierung der jungen Generation statt.
Gille beschreibt diese Ansammlung an Werten als „Wertesynthese“ oder „Wertecocktail“. „Junge Menschen wollen alles zugleich. Das Einzige, was an Bedeutung verloren hat, ist „Tun und Lassen was man will.“ Gille wagt die These, dass auf der jungen Generation ein großer Druck laste und mehr Disziplin erfordert sei. Sie verweist auf die Shell Jugendstudien. Diese könnten den Wertewandel über die Zeit nachvollziehbar abbilden.
Darüber hinaus haben Religion und Glauben für Mädchen und junge Frauen eine höhere Bedeutung als für Jungen und junge Männer. Großer Unterschied in Religiosität gibt es zwischen Christen und Muslimen. (Zahlen zu jüdischen und freikirchlichen Jugendlichen sind zu gering, um statistisch verwertbare Aussagen zu treffen). Die Wichtigkeit der Lebensbereiche von Jugendlichen wird regelmäßig abgefragt. In einer von Gille präsentierten Rangreihe steht die Religion, als wichtiger Lebensbereich, weit unten, hinter Kunst und Kultur und Engagement in Vereinen und Verbänden. Gille betont: „Ein wichtiger Aspekt bei den Untersuchungen sei die Unterscheidung zwischen Religiosität und Glaube. Die Mehrheit der jungen Erwachsenen gehen mit der Aussage konform: „Mein Glaube hat nichts mit der Kirche zu tun.“ Ihr Glaube ist da, trotz kritischer Haltung gegenüber Kirche. Es existiert der Befund, dass der Glaube junger Menschen stabil bleibt, die Religiosität, also Bindung an Kirche, religiöse Praxis, aber geht zurück.
Vertrauen in die Kirche – Zwischen den Parteien und den Großkonzernen
Darüber hinaus ging Gille auf das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen ein. Diese wurden in der FES-Jugendstudie 2015 abgefragt. Ganz vorne, mit dem größten Vertrauensbonus, stehen Judikative und Exekutive, dann Bürgerinitiativen, Gewerkschaften. Im Mittelfeld befinden sich Bundesregierung, Bundestag, EU und Medien. Kirchen sind im unteren Feld angesiedelt, nach den Parteien, aber noch vor den Großkonzernen. Gille relativiert diesen Befund mit der Aussage „Das Vertrauen in die Kirche sei daran gebunden, wie religiös oder gläubig man sei und ob man überhaupt konfessionell gebunden ist. Ist man nicht konfessionell gebunden, ist natürlich auch kein Vertrauen in solch eine Institution gegeben.“
Tiefer gehender legt Gille die Studienergebnisse vom evangelischen Theologen Friedrich Schweitzer (Jugend-Glaube-Religion), bezüglich des Verhältnisses zur Kirche dar. Dort heißt es: Mehrheitlich herrscht über alle Befragten hinweg ein positives Bild von Kirche vor. 54 % finden, dass die Kirche viel Gutes für die Menschen tut und 56 % finden gut, dass es die Kirche gibt. Gleichzeitig sind die kritischen Stimmen nicht zu überhören. 58 % meinen, dass sich Kirche ändern müsse, wenn sie eine Zukunft haben will. Und 57% stimmen der Aussage zu „Ich sehe kritisch, was die Kirche sagt“. 52% trauen der Kirche keine Antworten auf Fragen zu, die sie wirklich bewegen. Nur 38 % derer die einer Kirche angehören, ist es wichtig zu einer Kirche zu gehören. Weniger als ein Viertel nehmen einen positiven Zweck der Kirchensteuer wahr.
Das positive Bild von Kirche geht also ebenfalls mit einer kirchenkritischen Einstellung einher (eine kritische Einstellung zur Kirche bedeutet nicht automatisch, dass Kirche abgelehnt wird).
Kirchliches Engagement und ihre Einflussfaktoren
Kirche als Engagementfeld ist für Jugendliche bedeutsam. Hier zeigen sich allerdings soziale Disparitäten zwischen den Bildungsgruppen. Die höher angesiedelte Bildungsgruppe ist stärker in der Kirche engagiert. Bildungsressourcen sind wichtig und sie werden immer wichtiger für die unterschiedlichen Formen der sozialen und politischen Teilhabe junger Menschen. Es finden sich starke Unterschiede in der Religiosität und in der religiösen Praxis zwischen jungen evangelischen und katholischen Erwachsenen und muslimischen Erwachsenen. Weitere Ergebnisse: Kirchliches Engagement ist eng mit Religiosität und kirchlicher Praxis verknüpft. Kirchlich Engagierte räumen prosozialen Werten höhere Wichtigkeit ein und sind stärker in Vereine eingebunden, jedoch nicht unbedingt politisch aktiver als junge Menschen mit geringer bzw. keiner Kirchenbindung. Die Religiosität weist, vor allem bei katholischen Jugendlichen, abnehmende Tendenzen auf, während sich muslimische Jugendliche mit konstanter Religiosität auszeichnen.
Martina Gille hält fest: „Zukünftig gilt es die typischen Ausdrucksformen religiöser Überzeugung junger Menschen genauer zu untersuchen. Das ist das, was auch im ‚Bericht über die Lage der jungen Generation und die evangelische Kinder- und Jugendarbeit 2018’ beschrieben wird. Die Forschung kratzt hier nur am Rande und es braucht weitaus mehr Daten.“
Eingerahmt wurde das Schwerpunktreferat von Kleingruppenarbeiten. Die Teilnehmer*innen der Konferenz nahmen die Ergebnisse des Referats mit in ihre Diskussionsrunden, glichen sie mit ihren Vorerfahrungen ab und bildeten Hypothesen über die Zukunft in der Kinder- und Jugendarbeit. Hier einige Zitate aus dem anschließenden Plenum:
„Wir sollten mehr und andere Zugänge schaffen, um auch andere Bildungsschichten zu erreichen und nicht bloß höher angesiedelte Bildungsgruppen.“
„Wir müssen raus aus den kirchlichen Strukturen und mehr am einzelnen Jugendlichen dran zu bleiben, ihn begleiten.“
„Kirche ist nix für junge Männer“
„Sind unsere Strukturen, insbesondere im gemeindepädagogischen Dienst so, dass wir uns unterstützen religiöse Orientierung und kirchliche Integration für Kinder und Jugendliche zu eröffnen oder muss die Struktur verändert werden, dass Verkündigung gelingen kann?“
„Die Kirchenstrukturen müssen auch für Junge Menschen offen gelegt werden, wie ist Kirche aufgebaut?“
„Eine einfache und klare Sprache ist wichtig: Was glauben wir?“
„Die Kirche braucht eine gute Imagekampagne für Jugendliche, was tut Kirche und wofür zahlen wir die Kirchensteuer?“
„Wir wissen, dass wir nichts wissen.“
„Werden keine guten Jugendarbeiter*innen mehr an der evangelischen Hochschule ausgebildet?“
„Die finanziellen und personellen Ressourcen fehlen.“
„Jugendliche sagen mir nach der Konfirmandenzeit: ‚Die Gottesdienste sind nichts für mich!’“.
„Der Vertrauensverlust der Kirche nagt an mir. Es ist ein riesiges Mandat, verbunden mit der Bitte an die EKHN, dass sie bereit ist, mehr in den Jugendbereich zu investieren.“
"Religiöse Orientierung und kirchliche Integration von Jugendlichen" Vortrag von Frau Martina Gille